Exklusives Interview mit Thomas Sattelberger – Biographie, New Work und Innovation
Exklusives Interview mit Thomas Sattelberger – Biographie, New Work und Innovation
Thomas Sattelberger dürfte allen saatkorn. LeserInnen ein Begriff sein. Vor einigen Monaten hat er seine – durchaus kontrovers aufgenommene, in meinen Augen aber sehr lesenswerte – Biographie „Ich halte nicht die Klappe“ heraus gebracht. Insbesondere das letzte Kapitel „Zukunft gestalten – jenseits des Hamsterrads in Chefetagen“ spricht mir aus dem Herzen. Dort werden viele, beileibe nicht nur für HR relevante Themen andiskutiert. Sollte Pflichtlektüre für jede Führungskraft sein. – Vor einigen Wochen hatte ich dann Gelegenheit zu einem ausführlichen Gespräch mit Thomas Sattelberger. Auf geht’s:
saatkorn.: Thomas, der Titel Deiner Biographie lautet „Ich halte nicht die Klappe. Mein Leben als Überzeugungstäter in der Chefetage.“ Das klingt nach Rebellentum…
Das passt schon, aber was hat mich so rebellisch gemacht? – Eigentlich bin ich als Underdog aus nicht akademischem Elternhaus gestartet und habe es allen bewiesen, die es mir nicht zugetraut haben. Ich habe ja lange Zeit nicht dem Bild dessen, „der aus dem richtigen Stall kommt“ entsprochen. Eigentlich habe ich mich durchgeboxt, habe die Angebote, dazu zu gehören, mich anzupassen, nie angenommen. Ich habe viel mehr gute Bekannte und Freunde aus der Wissenschafts- und Kulturszene als aus der Managementkaste. Die Situationen, in denen ich mich drauf eingelassen habe, habe ich eher als geistig und emotional unterfordernd empfunden. Auf der einen Seite habe ich gemerkt, dass ich mir schade, aber ich konnte und wollte nicht um jeden Preis dazu gehören. Wenn Habitus Identität wird, wenn ich mich über den Status definiere und nicht über die Sache, über Verhaltensweisen oder Rituale und nicht über das Innere, dann löst das bei mir Störgefühle aus.
saatkorn.: Was mich sehr beeindruckt hat, war die Geschichte aus Deiner Continental-Zeit rund um die beabsichtigte Schließung des Werks in Stöcken. Ein klarer Wendepunkt in Deiner Conti-Zeit, aber nicht in Deinem Leben. Du beschreibst diese Jahre ja als Deine „Saulus“-Jahre. Wie konntest Du in der Zeit vor Stöcken so verblendet sein?
Lass mich anders anfangen: In der Zeit bei Conti war für mich klar: eine Kathedrale kannst Du, darfst Du, sollst Du nicht bauen. Also habe ich mir meinen Weg durch Tätigkeit in der Diaspora erschlossen, an der Peripherie der Macht. Ein Beispiel: ich war in Silao in Mexiko. Dort habe ich eine Mitarbeiterrunde gemacht – da waren nur sehr junge Mexikanerinnen. Und ich fragte den Werksleiter, warum. Der Werksleiter erläuterte mir auf die Frage, dass den jungen Frauen nach der Schwangerschaft die Männer weggelaufen waren und sie dann – um die Kinder durchzubringen – eben arbeiten mussten. Und das als ungelernte, ungebildete Arbeiterinnen! – Wir haben dann dort eine Conti- Universität gebaut, die sich dem Thema Alphabetisierung gewidmet hat.
Zweites Beispiel: ich werde nie vergessen, als ich vom Werksleiter stolz in die Räume der von uns geförderten Conti-Universität in Manila geführt wurde. Eine Tür wie in einem alten Bauernhof, darin ein karger 40 qm Raum, in dem unsere Vorarbeiter- und innen ihren Bachelor erwerben konnten.
Zurück zur Ausgangsfrage: ich habe sozusagen das seelische Vakuum in der strategischen Gestaltung oben für mich durch solcherart seelische Arbeit in der Diaspora ausgeglichen. Und das hat mir dann wieder geholfen. Die Autombilzulieferer-Branche ist eine der härtesten , durch den Druck der Hersteller zu extremer Effizienz gepeitscht. Da flüchtet man doch nicht. Auch wenn Effizienz Branchenlogik ist, haben Menschen Anrecht auf gute Personalarbeit und Führung.
saatkorn.: Es gibt ja Kritiker, die in Bezug auf Deine Person die Wandlung vom „Saulus zum Paulus“ für nicht glaubwürdig halten…
Ich habe mich nicht gewandelt, ich bin nur breiter geworden. Erst kürzlich habe ich beim Stuttgarter Presseclub noch gesagt: ich habe zu dem, was manche Menschen als grausam bezeichnen oder Härte, ein ungezwungenes Verhältnis. Das Problem bei Stöcken war: wir haben dort ohne Not die nötige Effizienzarbeit zu weit getrieben. Es so auf die Spitze zu treiben, war für mich die Problematik. Ich habe nie ein Problem mit einer harten Produktivitätspolitik gehabt, warum sollen deutsche Reifenarbeiter nicht 40 Stunden ohne Lohnausgleich arbeiten, wenn ein übergreifender Wert, nämlich jener des Standortschutzes und der Arbeitsplatzsicherheit, dadurch erst gewahrt bleibt?! – In solchen Fällen geht es darum, heute schmerzhaft etwas zu tun, was fünf Jahre später als gesundheitsbringende richtige Entscheidung betrachtet wird. Die Diskussion ging bei Conti immer um Realentscheidungen und nicht um Drohszenarien.
Ohne Wirtschaftlichkeit funktioniert die Wirtschaft nicht. Es wäre fatal, nicht betriebswirtschaftlich zu denken. Dass Umsatz minus Kosten Gewinn ist und dass ein börsennotiertes Unternehmen einer bestimmten Logik unterliegt: Ja klar! Die interessante Frage ist: was ist „Maß und Mitte“ beim Gewinn? Müssen es 25% sein? – Bei Conti ist der Bogen am Beispiel Stöcken überspannt worden, aber den Bogen grundsätzlich erst einmal zu spannen ist nach meiner Auffassung immer richtig. Wer Conti heute sieht, schaut auf ein blühendes High-Tech-Unternehmen. 2003 war es noch eine Reifenbude.
saatkorn.: Kommen wir zu einem Thema, welches wie kaum ein zweites Staub aufgewirbelt hat, nämlich der Frauenquote. Wie kam es dazu, dass Du dieses Thema so massiv getrieben hast?
Ich war empört! – Erst bei Conti mit ihrer maskulinen Technik-Kultur und dann insbesondere bei der Telekom, als ich in die dortigen Katakomben eingestiegen bin. Ich bin dort nicht eingestiegen, weil ich ein guter Mensch bin, sondern weil ich dem Thema auf den Grund gehen wollte. Als ich erkannte, wie Rückkehrinnen aus der Familiengründung als „Abbaumasse“ für Restrukturierung benutzt oder weibliche Führungskräfte auch sexuell „angemacht“ wurden, habe ich unmittelbar Handlungszwang gesehen. Einmal wurde ich mit 20 Frauen konfrontiert, die erst nicht mit mir reden wollten, weil sich ohnehin nichts ändern würde. Als dann doch geredet wurde habe ich stundenlang zugehört. Daraufhin habe ich René Obermann gebeten, dass er sich das auch mal anhört. Es gab dann im Büro von René ein Gespräch und danach habe ich laut und deutlich gesagt: das Thema der Nichtdiskriminierung oder positiv der Chancenfairness kann man nicht aus der Demografie heraus begründen. Hier geht es um die Schnittstelle von Ethik und Ökonomie. Das Thema Ethik ist ja immer schön, so lange es kein Dilemma gibt. Bei Dilemmata allerdings entscheidet sich die Frage, ob man sich ethisch verhält.
Ich habe meine Verantwortung – von wenigen Ausnahmen wie Stöcken abgesehen – nie aus einer rein betriebswirtschaftlichen Denke gesehen. Ich muss mich mit den Themen befassen, um seelische und emotionale Bezüge zu bekommen. Ich musste immer unter die Betroffenen gehen, um O-Töne einzufangen und auf Basis dessen zu verstehen, ob die Entscheidung richtig ist – wie beim Beispiel mit den Fabrikarbeiterinnen in Mexiko. Man muss das menschliche Schicksal kennen, um Entscheidungen zu treffen.
2007 hatte ich angekündigt, dass wir die Frauenquote einführen, wenn wir mit unserem traditionellen HR Handwerkszeug nicht zu einer adäquaten Lösung kommen. Die Erlebnisse in den Katakomben der Telekom entzogen sich einer rein rationalen Betrachtung. Es war für mich klar: das Thema muss radikal, an der Wurzel angefasst werden. Kosmetik und ein wenig Ankündigungspolitik hilft nicht. Dass Menschenrechte gewahrt werden, das man in einem Unternehmen oder in einer Schule Meinungsfreiheit hat, dass man nicht diskriminiert wird – aus welchem Grund auch immer – da hat mich meine linke Vergangenheit in Punkto universalistische Menschenrechte stark geprägt. Sowohl was meine eigene Person als auch andere betraf: eine Herabwürdigung hat mich immer angestachelt wie ein rotes Tuch den Stier. Wenn man mir die Meinung beschnitten hat bin ich auf Angriff übergegangen.
saatkorn.: Ein aktuelles Thema, welches Dich sehr beschäftigt, ist die ganze Diskussion um „New Work“. Bleibt „New Work“ ein Nischenthema oder wird es Mainstream?
Was für mich in meiner Rolle als Jurymitglied beim XING Ideenlabor war: die jungen mittelständischen Unternehmen waren nicht per se „New Work“Repräsentanten und die alten mittelständischen Unternehmen außen vor. Wenn der Virus einmal entfacht wird, dann ist er auch bei älteren Unternehmen nicht zu stoppen. Die Frage ist mehr ein Skalierungsthema als ein Lebenszyklusthema.
Im Grunde ist es piepegal, wo man bei New Work mit anfängt: ob es Gesundheit, Diversität oder Demokratie ist. Egal wo man anfängt, es zieht die anderen Themen nach.
Für mich ist ein Schlüsselthema, inwiefern wir es schaffen, Gründungsökologien zu bilden. Ökologien deshalb, weil die Wahrscheinlichkeit der Skalierung höher ist. Innovation 4.0 und Arbeitswelt 4.0 sind Zwillinge. Deswegen der Fokus auf kreative Ökologien. Eine Schlüsselrolle spielen hier die Hochschulen. Der Begriff Alma Mater bekommt hier eine Bedeutung wie: die „Mutter von Gründungen“. Vor Ort findet man Studierende, die gründen wollen, Professoren, die mitgründen, Business Angels und natürlich Unternehmen die schon erfolgreich gegründet wurden. Vor allem Alumni befördern das an Hot Spots wie Haifa, Singapur oder Stanford. Die Gründerszene in Berlin ist ja zugegebenermaßen existent. Aber ich stelle mir die Frage, ob sie nicht zu isoliert ist. In Deutschland sollte im Kontext Unternehmensgründung der Fokus mehr auf die Alma Mater, sozusagen als dritte Mission neben Forschung und Lehre, gelegt werden. Lange Rede, kurzer Sinn: wenn so etwas gemacht wird, sehe ich Chancen, dass sich in Deutschland der neue Mittelstand signifikant ausweitet. Amerikanische Entrepreneure sind überdies bereits recht nachhaltig: selbst für eine Milliarde verkaufen sie nicht ihr Unternehmen – weil sie an etwas glauben. In Deutschland sind Gründer viel „Cash-orientierter“.
Ich plane für nächstes Jahr eine große Konferenz zu Gründerökologien. Neben diesem Thema gibt es in etablierten Organisationen eine territoriale Frage. Offensichtlich ist Kulturwandel im Gesamtsystem sehr viel schwieriger als innerhalb von Großorganisationen durch territoriale Abgrenzung ein eigenes Klima zu schaffen. Beim i3 von BMW hat die Sequenzierung gut geklappt. Das E.ON Thema – Schaffung einer „bad bank“ – ist jedoch schlimm, weil es aufgrund des langen Nicht-Handelns nur noch diese eine Option gab. Je optionsärmer man im Handeln ist, desto riskanter wird das ganze Unterfangen.
New Work wird meiner Meinung nach definitiv zum Mainstream-Thema, da durch Wertewandel, Talentlücken aufgrund der demografischen Entwicklung und der zunehmenden Potentiale durch Digitalisierung immer mehr Menschen anfangen, in diese Richtungen Forderungen zu stellen.
saatkorn.: Zu guter Letzt: was mir an Deinem Buch fehlt ist der Privatmann Thomas Sattelberger. Nur wenige Sätze drehen sich um Dein Privatleben. Bleibt neben Deinen vielfältigen Engagements noch Zeit für ein Hobby oder andere Interessen? – Was begeistert Dich, wie schaltest Du ab?
Zunächst mal: Es gibt nicht den beruflichen und den privaten Thomas. Ich bin ein Hybrid. Im Kern ist Arbeit für mich nicht protestantische Pflichterfüllung, sondern das Bauen von Bewässerungsanlagen und gothischen Kathedralen. Ich bin ein Designer von Lern- und Arbeitswelten. In dieser künstlerischen Berufsdefinition ist bei mir Arbeit und Privatleben verschwommen. Denn gute Künstler arbeiten, wenn sie die Eingebung haben. Die Frage ist, inwiefern die Koexistenz unterschiedlicher Arbeits- und Lebensstile gelingt. Für mich war die 90 Stunden Woche ja nicht das Problem, sondern allenfalls, dass ich das Mitarbeitern aufoktroyiert habe. Für mich ist der Antrieb eher das Thema „ein Werk schaffen“. – Die letzten 2 Jahre bei der Telekom waren nicht mehr ein „Werk schaffen“, sondern Abarbeiten und Hetzen. Aber: ich bin nie gegangen, ohne Spuren zu hinterlassen. Meine eigene Befriedigung ziehe ich aus der Veränderung. Da, wo Arbeit übergreifend Berufung ist, aber in bestimmten Phasen protestantische Pflichterfüllung ist alles ok.
Bei Continental und Telekom konnte ich von meinen, in den jahren zuvor fast Medici-haften aufgebauten Gedanken, Ideen, Konzepten und Erfahrungen zehren. Eigentlich habe ich mit 45/50 so viele Erfahrungen im Berufsleben gesammelt wie manche nicht mit 70. Diese akumulierten Schätze haben in meinen Vorstandsjahren im Hamsterrad dazu geführt, dass ich weiter innovieren konnte. Ich war zwar nicht schöpferisch innovativ, sondern konnte „aus Altem“ schöpfen. Gerade bei der Telekom konnte ich aus der Vergangenheit zehren, insbesondere das Thema „Transformation eines Personalbereiches“ hatte ich ja bereits bei der Lufthansa und der Continental AG gelernt. Ich konnte sozusagen Innovation abarbeiten, über meine zuvor gespeicherte Kreativität. Jetzt, jenseits des Hamsterrades bin ich wieder frei „neu“ zu innovieren.
Meine originäre Kreativität ist übrigens erst so eineinhalb Jahre nach dem Austritt aus der Telekom wieder zurück gekommen. Grundlage für Kraft, Kreativität und Innovationskraft ist bei mir das Glück in der privaten Beziehung.
saatkorn.: Thomas, vielen Dank für das Interview. Und in diesem Sinne weiterhin viel Spaß und Erfolg bei Deinen zahlreichen Aktivitäten.
Auf der saatkorn.-Facebook Seite verlose ich drei von Thomas Sattelberger signierte Exemplare seiner Biographie. Dazu bitte einfach HIER im entsprechenden Beitrag kommentieren, warum das Buch ausgerechnet DIR gehören sollte. Viel Glück!