Hamsterrad und Mohrrübe: Work Life Balance und Führung
Schöne neue Welt: zumindest für Leute, die als „Knowledge Worker“ unterwegs sind, ergeben sich theoretisch ja ganz neue Möglichkeiten der Arbeit. Flexibel und mobil können wir im Grunde genommen zu jeder Zeit von überall her arbeiten. Ein Traum! – Ob man jetzt auf der Terasse in der Sonne sitzt oder im Büro – für die Zeiten, in denen man nicht eng auf direkten Austausch mit dem eigenen Team, Kunden oder Dienstleistern angewiesen ist, kann man selbst nach Lust und Laune entscheiden, zu welcher Uhrzeit und wo gearbeitet wird. Ich selbst bin einer dieser „Knowledge Worker“ – vermutlich wie die meisten saatkorn. LeserInnen auch. Und die meisten der Kolleginnen und Kollegen aus unserer Branche sind ja auch perfekt mit allen technischen Devices um iphone, ipad & Co ausgestattet und arbeiten darüber hinaus meistenteils in Firmen, die die „neue Freiheit“ ja auch propagieren. Entweder ist das interne Firmenregelwerk bereits offziell so ausgestaltet, dass Flexibilität und Mobilität kein Thema sind – oder ein veraltetes Regelwerk, wie es in vielen Firmen ja auch noch existent ist (der Klassiker „keine private Nutzung des Internets bei der Arbeit“) wird im allgemeinen Einvernehmen ignoriert. Diese Situation gibt dem einzelnen Mitarbeiter (weibliche Form bitte stets mitdenken) ein Höchstmaß an individueller Freiheit – zumindest auf den ersten Blick.
Aber: kein Licht ohne Schatten. Und so gibt es derzeit ja eine Menge Publikationen rund um dieses Thema. Ein meiner Meinung nach lesenswerter Artikel rund um diese Themen war in einer der letzten „Stern“-Ausgaben (dazu das Cover links oben. Klick drauf und Du siehst das Redaktionsvideo zu dieser Story) und ein sehenswerter Film zum Thema ist „Work hard, Play hard“. Hier der Trailer:
[videoembed type=“youtube“ width=“680″ height=“380″ url=“http://www.youtube.com/watch?v=TE0JKY5w9rM“ id=“0″]Was das mit den saatkorn.-Themen zu tun hat? – Eine ganze Menge, lest Euch nur mal die Bewertungen auf YouTube unter dem Film durch. Ein Zitat (inklusive der Rechtschreibfehler ;-)): „ich habe gerade mein studium beendet und ich WEIGERE mich, mich in einer unternehmensberatung verbraten zu lassen oder in einem konzern nachzuplappern, was andere denken. ich mache mich entweder selbständig oder gehe in den mittelstadn, wo man zumindest ein wenig menschlich ist. der witz ist, dass das niemand nachvollziehen kann, da alle dieser irrsinnigen philosophie hinterherrennen. die halten mich für verrückt, dass ich das nicht mitmachen will…“ – Und das ist keine Einzelmeinung unter den vielen Diskussionsbeiträgen zu dem Trailer.
Am Ende dieser ganzen Diskussionen kommt man meines Erachtens – wenn man aufs Individuum geht – immer wieder auf folgende Punkte:
- die Ansprüche, die an „Knowledge Worker“ gestellt werden, haben sich ja nicht im positiven Sinne für den Arbeitnehmer geändert. Bestenfalls sind die Ansprüche gleich geblieben, schlechtestenfalls – je nach individueller Betrachtungsweise – hat sich die Situation für die Arbeitnehmer vielleicht auch verschlechtert, denn Flexibilität bedeutet ja nicht weniger Arbeit, sondern „nur“ mehr individuelle Freiheitsgrade bei der Gestaltung der Arbeit.
- durch zunehmende Komplexität bei der Bewältigung von Aufgaben, die oft in global zusammen gesetzten Teams gelöst werden müssen, entsteht ein viel höherer Kommunikations- und Koordinationsaufwand. Zeitverschiebungen, die Erwartungshaltung, dass auf eine per Email gestellte Frage im Grunde genommen innerhalb von 24h eine Antwort kommen muss oder aus Dienstleisterperspektive das Gefühl, ständig für den Kunden verfüg- und erreichbar sein zu müssen führen anscheinend bei vielen Personen nicht dauerhaft zu einer durch Flexibilität und Mobilität erhöhten Produktivität, sondern schlagen vielen aufs Gemüt. Ob das daraus entstehende Ohnmachtsgefühl als Erschöpfungszustand, erhöhter Stressanfall oder Modewort-typisch als „Burn Out“ bezeichnet wird, ist egal: das Ergebnis ist ähnlich, denn die Produktivität sinkt.
Was hat das nun mit Führung zu tung? – Es ist ja so, dass die meisten „Knowledge Worker“-Führungskräfte aus individueller Perspektive zunehmende Verfügbarkeit, Schnelligkeit von Kommunikation und ein Explodieren der eigenen Email-Postfächer beklagen und versuchen, individuelle Lösungen zu finden. Viele Leute beschäftigen sich ständig mit dem Austarieren von Arbeit und Freizeit mit dem Ziel, eine individuell als angenehm empfundene „Work Life Balance“ zu (er-)leben. Von den Firmen bekommen sie dafür meistens kein Regelwerk (mehr) vorgegeben. Es würde dem individuellen Anspruch, Herr seiner selbst zu sein, ja auch widersprechen. Also ist Selbstdisziplin gefragt. Und hier fangen die Probleme meiner Meinung nach oft an.
Viele Führungskräfte sind ja deswegen Führungskräfte geworden, weil sie hohe Ansprüche an die eigene Leistung anlegen – und dies meist schon ein Leben lang. Die Extrameile gehen, ein hoher Perfektionsanspruch, verbunden mit der inneren Überzeugung, eine Vorbildfunktion einnehmen zu müssen: das sind oft die Treiber für den eigenen Erfolg. Aber genau diese Treiber mit einem extrem hohen individuellen Freiheitsgrad in Einklang zu bringen, das ist für die meisten intrinsisch getriebenen Führungskräfte ein Problem, nämlich eine Frage der Selbstdisziplin. Als Führungskraft mit hohem Freiheitsgrad und hohen Ansprüchen an mich selbst ist es erforderlich, mir eigene Grenzen zu setzen und meinen Mitarbeitern vorzuleben, was Work Life Balance eigentlich bedeutet. Dies geht meines Erachtens nicht, ohne deutlich erkennbare Zeichen zu setzen. Und zwar selbst zu setzen und nicht zu erwarten, dass dieser Rahmen von der Führungskraft darüber wiederum geschaffen oder freigegeben wird.
Ich selbst habe mich zu einigen klaren Regeln für mich durchgerungen. Und diese auch meinem Team kommuniziert – verbunden mit der Erwartung, dass jede Führungskraft sich eigene Regeln überlegt. Ein paar Beispiele? – Auf geht’s:
- Vor 7:30 Uhr und nach 19:00 Uhr sowie am Wochenende sende ich keine Emails mehr in mein Team und beantworte selbst auch keine Mails. Ausnahmen bestätigen hier natürlich auch die Regel, denn es gibt Situationen in Projekten, wo das so nicht funktioniert. Aber diese Situationen treten so häufig dann auch wieder nicht auf.
- Ein weiterer Punkt: im Urlaub bin ich nicht erreichbar, lese keine Mails und bin auch auf facebook und Co nicht unterwegs. Im äussersten Notfall kann meine Assistentin bei meiner Frau auf dem Handy anrufen und dann bin ich ausnahmsweise (!) doch verfügbar. Das praktiziere ich nun seit 3 Jahren. Ergebnis: ich wurde noch nie angerufen.
- Ein drittes Beispiel: ich nehme meinen Urlaub von 30 Tagen stets im gleichen Kalenderjahr und lasse keine Urlaubstage verfallen.
Das sind nur drei kleine Beispiele für den Umgang mit einem Höchstmaß an individueller Freiheit (die ich absolut nicht missen möchte) bei der gleichzeitigen Notwendigkeit, genügend Raum zur Erholung und zum Aufladen der eigenen Batterien zu schaffen. Vor einigen Jahren war ich einmal auf einer Nachwuchs-Führungskräfteveranstaltung mit dem damaligen Bertelsmann CEO Gunter Thielen. Dieser fragte dann in die Runde, wieviel Prozent er nach Meinung der Anwesenden täglich „geben“ würde. Die Antworten lagen bei sämtlichen Nachwuchsleuten über 100 %. Klar, bei so einer CEO-Aufgabe. Seine Antwort damals: „Ich gebe täglich durchschnittlich 80%, denn es gibt Tage, da muss ich 150% geben – und das funktioniert auf Dauer selbstverständlich nicht.“ – Da kann man durchaus mal drüber nachdenken.
Wie geht es Euch, liebe LeserInnen und Leser: was haltet Ihr von der ganzen Work Life Balance Diskussion und vom Trend zum Burn Out? Habt Ihr eigene Tipps und Tricks, wie Ihr mit Eurer Freiheit umgeht? – Das würde mich interessieren…
Allen einen schönen Sonntag!