Der Kulturmatcher zur Messung von Unternehmenskultur
In den letzten Wochen ist hier auf saatkorn., aber auch in diversen Gesprächen mit Kunden und Partnern im Markt, immer wieder das Thema „Unternehmenskultur“ in den Fokus gerückt. Vorletzte Woche hatte ich eine vielbeachtete Infografik zum Thema Unternehmenskultur gebloggt, vor einigen Monaten hat Staufenbiel in der Jobtrends 2015 Studie auf die zunehmende Relevanz des Themas im Kontext Arbeitgeberattraktivität und Recruiting hingewiesen und im kürzlich hier erschienenen Interview mit Robindro Ullah war auch vom „Cultural Fit“ die Rede. Dass ich das Thema spannend finde, liegt ohnehin auf der Hand, habe ich doch 1998 meine Diplomarbeit zum Thema „Die Mitarbeiterbefragung als Ansatzpunkt für Organisationsentwicklung“ geschrieben – und da stand das Thema Unternehmenskultur selbstredend auch im Fokus. Angesichts der demographischen Entwicklung und der zunehmenden Transparenz in der Arbeitgeberkommunikation, Stichwort Digitalisierung, bin ich fest davon überzeugt: Unternehmenskultur wird zum zentralen Differenziator im Employer Branding. Das bringt uns zur grundlegenden Frage inklusive einer Antwortmöglichkeit:
Der Kulturmatcher zur Messung von Unternehmenskultur
In eine ähnliche Richtung denkt auch Jo Diercks mit seinem Cyquest Team. Auf der HR Edge konnte man kürzlich den „Kulturmatcher“ testen. Habe ich gemacht und war begeistert (aktuell analysieren wir, wie man das Tool mit unseren Lösungen blicksta und careerloft verheiraten kann, aber das nur am Rande) – dementsprechend habe ich einmal genauer nachgefragt und Antworten von Joachim Diercks und Nora Köhler. Und wer Jo kennt, weiß, dass die Antworten spannend und ausführlich ausfallen. Let’s go:
saatkorn.: Bitte stelle Dich und Cyquest den 2% der Saatkorn. LeserInnen, die Dich noch nicht kennen, doch kurz vor.
Jo: Gern! Wir kommen aus der Eignungsdiagnostik, das heißt wir entwickeln mit aktuell 21 Mitarbeitern, davon 7 Psychologen, Testverfahren zur Messung aller möglichen auswahlrelevanten Merkmale. Wenn man sich also etwa bei E.ON auf einen Ausbildungsplatz oder bei Tchibo für ein Traineeprogramm bewirbt, dann ist die Chance groß, dass man durch ein Online-Assessment von CYQUEST geschickt wird. Wir setzen aber mit unseren Lösungen oft auch nicht erst an, wenn sich jemand schon beworben hat, sondern wir entwickeln Lösungen, mit denen man vorher herausfinden kann, ob man sich überhaupt bewerben sollte. Das sind dann Berufs- und Studienorientierungsinstrumente, Self-Assessment-Verfahren und alle möglichen Matching-Lösungen. Unser Berufsinteressentest, der z.B. innerhalb von blicksta zum Einsatz kommt, zeigt jungen Menschen etwa, wie gut der eine oder andere Ausbildungsberuf zu den eigenen Interessen passt.
Wir arbeiten dabei nach hohen wissenschaftlichen Standards. Das muss und darf unserer Überzeugung nach aber nicht heißen, dass es deswegen langweilig und unattraktiv anmutet. Im Gegenteil: Unsere Instrumente haben häufig eine spielerisch-simulative Erscheinungsform und sind nach Employer Branding-Gesichtspunkten gestaltet. Deshalb nennen wir uns auch „Recrutainment Company“. Insg. betreuen wir rund 50 Kunden – Unternehmen, Hochschulen und Einrichtungen. Mit dem Recrutainment Blog betreiben wir zudem einen der meistgelesenen deutschsprachigen HR-Blogs und schaffen es unter anderem auch darüber immer wieder Impulse in die Fachdiskussion zu geben – wie eben aktuell zum Thema Unternehmenskultur und Cultural Fit…
saatkorn.: Aktuell beschäftigt Ihr Euch intensiv mit dem Thema Unternehmenskultur. Den von Euch entwickelten Kulturmatcher konnte man auf der HR Edge das erste Mal ausprobieren. Welche Überlegungen stecken dahinter?
Nora: Das Thema Unternehmenskultur ist schon seit langem aus Forschung und Praxis nicht mehr wegzudenken und obwohl es keine einheitlich akzeptierte Theorie oder Definition gibt, herrscht Einigkeit darüber, dass Unternehmenskultur eine wichtige Funktion als Bezugspunkt für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und auch für Externe hat. Wenn es um Personalauswahl und Selektionsentscheidungen geht, kommt man an dem Thema Personal Fit und Unternehmenskultur nicht vorbei und zwar sowohl mit Blick auf die Unternehmens-, als auch die Kandidatenseite. Da geht es um Aspekte wie Authentizität, Transparenz, Orientierung und solide Entscheidungsgrundlagen.
Trotz dieser unbestrittenen Relevanz für Unternehmen und Bewerberinnen und Bewerber ist Unternehmenskultur immer noch ein ziemlich nebulöses Konstrukt und es herrscht oft der festgefahrene Gedanke vor, dass sie nur in einem moderierten „Mensch-zu-Mensch“-Kontakt (also z.B. im Vorstellungsgespräch) greifbar ist. Bisherige Ansätze zur Erfassung der Unternehmenskultur sind unserer Meinung nach häufig sehr verkopft oder ohne adäquaten wissenschaftlichen Hintergrund. Wir haben uns gedacht, dass das doch auch anders gehen muss und uns nach langer Auseinandersetzung mit dem Thema schließlich im letzten Jahr an die Entwicklung des Kulturmatchers gemacht, um Unternehmenskultur messbar zu machen. Dabei stand für uns von Anfang an im Vordergrund, ein Instrument zu entwickeln, das höchste wissenschaftliche Qualitätsansprüche erfüllt und gleichzeitig Spaß macht.
In einer umfangreichen Analysephase haben wir uns nicht nur angeschaut, welche Werte in der wissenschaftlichen Diskussion und in einschlägigen empirischen Untersuchungen als relevant erachtet werden, sondern auch eine eigene empirische Untersuchung durchgeführt. Hierbei haben wir uns die Karrierewebsites einer Stichprobe verschiedenster Unternehmen angeschaut und gezielt danach analysiert, wie Unternehmen ihre Unternehmenskultur beschreiben und wie die aufgegriffenen Aspekte operationalisiert werden.
Basierend auf der Analysephase haben wir uns bei der Itemkonstruktion auf den „gemeinsamen Nenner“ der einflussreichen Theorien zum Thema Unternehmenskultur konzentriert, nämlich die Werte. Nach zahlreichen Review- und Verdichtungsschleifen und unter kontinuierlichem Einbezug von Expertenbeurteilungen ist der Kulturmatcher nun mittlerweile so weit entwickelt, dass wir ihn stolz auf der HR Edge präsentieren konnten und demnächst in die ersten Pilotprojekte mit Kunden starten werden.
saatkorn.: Wie funktioniert der Kulturmatcher konkret? – Auf der HR Edge habt Ihr ja ermittelt, wie gut die Passung der Probanden zur Unternehmenskultur von Cyquest ist. Bei mir kamen übrigens 75 % raus. Wie wird der Kulturmatcher am Anfang eigentlich auf ein Unternehmen „geeicht“?
Nora: Ganz konkret besteht der Kulturmatcher aus drei Teilen:
Zunächst werden dem User unter dem Leitsatz „In meinem Wunschunternehmen soll gelten…“ eine Reihe von Items präsentiert. Dabei zeichnet sich der Kulturmatcher durch sein innovatives Itemformat aus. Jedes Item ist stufenweise bipolar, d.h. es besteht aus zwei Werte-Polen, wobei sich wiederum jeder Pol aus einem kurzen Textstimulus und einer Illustration zusammensetzt. Der dadurch entstehende situative Charakter der Items spricht nicht nur den Kopf, sondern auch den Bauch an. Der User kann mit Hilfe eines Schiebereglers angeben, welchem der beiden Pole er mehr und welchem er dementsprechend weniger zustimmt. Ein Spotlight, welches sich mit der Umpositionierung des Schiebreglers verändert, unterstreicht die eigene Einordnung.
Auf Grundlage dieser Antworten wird ein individuelles Ergebnisprofil erstellt, welches dem User im zweiten Schritt angezeigt wird. Im Ergebnisprofil ist zu erkennen, welche kulturellen Facetten einem selbst bei einem Unternehmen wichtig sind. Zukünftig soll hier auch die Möglichkeit bestehen, seine eigenen Ergebnisse mit denen einer Vergleichsgruppe abzugleichen. So könnte zum Beispiel die Frage spannend sein, welche Aspekte der Unternehmenskultur mir im Vergleich zu anderen Personen meines Geschlechts oder Alters besonders wichtig sind.
Der dritte Teil ist schließlich das eigentliche Kulturmatching. Dem User wird hier die prozentuale Passung zur Unternehmenskultur eines bestimmten Unternehmens angezeigt. Denkbar sind Matchings auf verschiedenen Ebenen, beispielsweise Matchings zu unterschiedlichen Unternehmen einer Branche aber auch zu verschiedenen Abteilungen eines Unternehmens. Im Falle der HR Edge konnten alle Interessierten – und das waren ja eine ganze Menge – ihre persönliche Passung zur Unternehmenskultur von CYQUEST ermitteln.
Und damit kommen wir zur Frage der „Eichung“. Um die Passung eines Users zu einem Unternehmen ermitteln zu können, brauchen wir natürlich nicht nur eine Information darüber, was der jeweiligen Nutzerin oder dem Nutzer an einer Unternehmenskultur wichtig ist, sondern auch darüber, was die Unternehmen auszeichnet, zu denen ein Matching erfolgen soll.
Ein denkbarer Weg, den wir auch im Falle des Matchings zu CYQUEST auf der HR Edge genutzt haben, ist der, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des zu matchenden Unternehmens selbst den Kulturmatcher bearbeiten und mit Hilfe dieser Ergebnisse Soll-Bereiche definiert werden, in denen ein User „landen“ sollte, um zum entsprechenden Unternehmen zu passen. Eine andere Möglichkeit der Eichung wäre auch die, Experten des jeweiligen Unternehmens die verschiedenen Facetten der Unternehmenskultur einschätzen zu lassen.
saatkorn.: Haben sich aus dem Ausprobieren auf der HR Edge mit über 100 Probanden eigentlich Optimierungspotenziale ergeben? – Wenn ja, welche?
Nora: Für uns war es natürlich total toll zu sehen, dass so viele Leute neugierig auf den Kulturmatcher waren und letztendlich auch den kompletten Mini-Kulturmatcher vor Ort bearbeitet haben! Das hat uns auf jeden Fall darin bestärkt, dass wir da auf einem richtigen Weg sind und das Thema Unternehmenskultur unheimlich gefragt ist.
Grundsätzlich wurde und wird der Kulturmatcher kontinuierlich weiterentwickelt und wir freuen uns über alle Daten, aus denen wir Rückschlüsse ziehen können. In der Entwicklungsphase gab es bereits zwei große Pretests in Zusammenarbeit mit der Uni Marburg und der Leuphana Universität Lüneburg mit insgesamt über 500 Personen. Hier haben wir auch schon erste sehr positive Ergebnisse zur Skalen- und Itemqualität, zur Testgüte und User-Akzeptanz ermitteln können.
Das Ausprobieren auf der HR Edge und gerade auch das damit verbundene persönliche Feedback zum Kulturmatcher ist für uns natürlich besonders spannend. Für die Weiterentwicklung hat sich in jedem Fall herauskristallisiert, dass noch deutlicher werden muss, dass man sich auch mittig zwischen beiden Item-Polen positionieren kann. Außerdem wurde mehrfach der Wunsch geäußert, sich auch mit anderen Unternehmen vergleichen zu können und seine eigenen Ergebnisse im Vergleich zu anderen Usern zu sehen. All dies sind potentielle Stellschrauben für die Weiterentwicklung bzw. Optimierung. Insgesamt ist das Feedback sehr positiv ausgefallen und die User hatten richtig Spaß an der Bearbeitung auf dem iPad, die unserem „mobile first“-Gedanken Rechnung getragen hat.
saatkorn.: Welche Ziele kann man Eurer Meinung nach mit dem Kulturmatcher erreichen?
Jo: Kultur bzw. kulturelle Passung ist immens wichtig bei der Personalgewinnung, darüber sind sich alle einig. Trotzdem halten sich Unternehmen immer sehr bedeckt, wenn es darum geht, klar zu sagen, wie sie denn nun wirklich sind oder eben nicht sind. Die Ursache liegt unserer Überzeugung nach darin, dass die Unternehmen oftmals eben nicht in der Lage sind, das klar zu benennen. Da kommen dann immer so Aussagen wie „wir schauen auf den Menschen“ oder „bei uns wird Leistung großgeschrieben“ oder „wir sind Innovationsführer“… Damit kann ein potentieller Bewerber aber kaum etwas anfangen; die Chance eine gute Selbstselektion zu ermöglichen verstreicht ungenutzt. Gleichzeitig fehlt aber auch dem Recruiting der Unternehmen ein klarere Referenzrahmen, nach dem sie eine valide – weniger vom Bauchgefühl abhängige – Passungsbeurteilung von Kandidaten vornehmen können. Der Kulturmatcher macht unternehmenskulturelle Merkmale aber eben quantifizierbar. Die über allem stehende Zielsetzung – und das ist auch der zentrale Nutzen – ist die Messung eines kulturellen Profils.
saatkorn.: Skeptiker würden vermutlich sagen, dass Kultur nicht wirklich messbar ist. Was entgegnet Ihr denen?
Jo: Naja, wir sehen ja, dass es geht… Nein im Ernst, natürlich ist „Kultur“ ein per Definition weiches Thema. Genauso wie Persönlichkeit kann man auch Kultur nie so klar und abgegrenzt messen, wie man z.B. Leistung oder Wissen messen kann. Das liegt daran, dass weiche Konstrukte sowohl definitorisch immer Unschärfen aufweisen als auch daran, dass es hier kein „Richtig oder Falsch“ gibt. Das Problem ist aber häufig, dass deshalb viele Unternehmen zum Thema Kultur entweder gar nichts sagen oder in Allgemeinplätzen von Teamkultur, Work-Life-Balance oder ähnlichem sprechen. Mit dem Kulturmatcher kann man aber eben z.B. sehr viel konkreter sagen, wie viel „Work-Life-Balance“ denn genau – etwa im Vergleich zu „Karriereorientierung“… Der Kulturmatcher liefert hier eindeutige Punktwerte, auch wenn man um diese herum immer einen kleinen Unschärfe- bzw. Interpretationspuffer einbeziehen muss.
saatkorn.: Wo siehst Du Anwendungsgebiete für den Kulturmatcher, wie passt die Idee zum Paradigmenwechsel auf dem Arbeitsmarkt?
Jo: Da sehe ich eine ganze Reihe an Einsatzszenarien. Unser Leitgedanke war in der Tat der eines „Matching-Instruments“, d.h. wenn es etwa auf Seiten des Kandidaten eine Art Messung „so wünsche ich mir die Kultur bei meinem Wunscharbeitgeber“ gibt und auf der anderen Seite ebenfalls eine „Ist-Kultur-Messung“ des Arbeitgebers vorliegt, dann kann man beides direkt miteinander in Bezug setzen und etwa nach Ähnlichkeit („supplementärer Fit“) oder Verschiedenheit („komplementärer Fit“) matchen. Man misst dann soz. auf beiden Seiten mit dem selben Messinstrument. Das kann dann entweder für Self-Assessment-Zwecke eingesetzt werden („Finde mal heraus, ob du zum Unternehmen, zur Abteilung oder zur Stelle kulturell passt!“) oder sogar für das Recruiting („schicken wir doch jeden Bewerber mal durch den Kulturmatcher und schauen, ob dieser auch kulturell passt“). Auch wenn es viele HR´ler scheinbar noch nicht bemerkt haben, haben wir uns in den meisten Arbeitsmärkten längst von einer „Personalbeschaffung nach Eignung“ entfernt hin zu einer „Personalgewinnung nach Passung“ – da ist die Einbeziehung kultureller Passung nicht nur logisch und naheliegend, sondern längst überfällig.
Aber neben dem Matching kann man sich auch eine ganze Menge anderer höchst sinnvoller Einsatzzwecke vorstellen. So kann der Kulturmatcher etwa unternehmensintern eingesetzt werden, um beispielsweise herauszufinden, wie das Unternehmen, der Bereich oder die Abteilung überhaupt kulturell so ticken. Das kann sehr spannend sein, etwa wenn Unternehmen fusionieren, Bereiche oder Abteilungen zusammengelegt werden sollen etc. Oft scheitern solche PE-Themen nämlich an nicht identifizierten kulturellen Unverträglichkeiten… Auch kann der Kulturmatcher eine sehr sinnvolle Basis für die Definition bzw. Formulierung der EVP liefern. Uns begegnen sehr oft „Arbeitgebermarken-Definitionen“, die ganz offensichtlich aus der Feder eines fähigen Wertetexters stammen, aber relativ wenig mit dem eigentlichen Wesen des Unternehmens zu tun haben. Hier kann der Kulturmatcher soz. die „gemessene Grundlage“ für die nachfolgende Ausformulierung der EVP liefern.
Schließlich sehe ich perspektivisch auch eine Verbindung des Kulturmatchers zum Thema Big Data. Die Testergebnisse können sehr spannende Datenpunkte liefern, die man gut in Bezug zu anderen vorliegenden Daten von Mitarbeitern oder Bewerbern setzen kann. Wenn man z.B. herausfindet, dass Mitarbeiter in einer bestimmten Region besonders viel Wert auf „Familiäres Arbeitsumfeld“ legen, dann könnte diese Erkenntnis dafür sorgen, dass man speziell in dieser Region Google Anzeigen zur Personalgewinnung schaltet, die diesen Aspekt besonders betonen. Um mal ein Beispiel zu nennen…
saatkorn.: Nora, Jo – ganz herzlichen Dank für Eure Antworten. Ich wünsche Euch weiterhin viel Spaß und Erfolg mit diesem spannenden Thema!